Warum es nicht schadet, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen: Schopenhauers Stachelschweine
Von Teresa Albano, OSZE-Referentin für wirtschaftliche Angelegenheiten, Projektleiterin des E-MINDFUL-Projekts
“An einem kalten Wintertag drängten sich einige Stachelschweine zusammen, um sich zu wärmen; als sie aber anfingen, sich gegenseitig mit ihren Stacheln zu stechen, mussten sie auseinandergehen. Die Kälte trieb sie jedoch wieder zusammen, und es geschah genau das Gleiche… In gleicher Weise treibt das Bedürfnis der Gesellschaft die menschlichen Stachelschweine zusammen, nur um durch die vielen stacheligen und unangenehmen Eigenschaften ihrer Natur gegenseitig abgestoßen zu werden.”, Schopenhauer, 1851/1964, S. 226
Im Stachelschwein-Dilemma, das durch den deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer berühmt wurde, ringen die Menschen um den richtigen Abstand, um sinnvolle zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Dem Philosophen zufolge ist die Gefahr, verletzt zu werden, umso größer, je vertrauter wir uns werden.
Die Welle der Empathie, die eine Vielzahl von Türen öffnet, da Familien vertriebene Ukrainer in der Intimität ihrer Häuser aufnehmen, scheint das Stachelschwein-Dilemma in Frage zu stellen. Im Gegensatz zu ähnlichen Erfahrungen wurde die Ankunft von Millionen von Ukrainern mit einer derartigen Willkommenshaltung aufgenommen, dass schon bald besondere Schutzmaßnahmen ergriffen wurden, was ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist, wie die öffentliche Meinung die Politik beeinflussen kann.
Warum ist das so?
Menschen wie “wir”
Dieser Fall zeigt deutlich den Einfluss von Kommunikation und Medien auf die öffentliche Meinung und die Migrationspolitik und bietet eine einzigartige Gelegenheit zu verstehen, wie Narrative die Wahrnehmung und die politischen Ansätze gegenüber Migranten und Flüchtlingen in den Aufnahmegesellschaften beeinflussen können. Ähnlich der Funktion der Mythologie in der Vergangenheit bieten diese Narrative einen Kompass, um die Komplexität des realen Lebens zu navigieren, Verhaltensweisen zu formen und gemeinschaftliche Identitäten und Werte zu bilden, die sich in der Politik widerspiegeln.
Im Fall der ukrainischen Vertriebenen ist die vorherrschende erzählerische Eigenschaft in dem Konzept “Menschen wie wir” zusammengefasst. Im scheinbaren Widerspruch zu dem deutschen Philosophen bestätigt die Sozialwissenschaft, dass wir Fremde umso positiver empfinden und entsprechend handeln, je mehr wir sie als uns “nah” empfinden. Um diese “Nähe” zu ukrainischen Migranten und Flüchtlingen herzustellen, werden in den Erzählungen häufig Schlüsselfaktoren wie “Verletzlichkeit” und “Nähe” herangezogen.
Während Erzählungen über ausländische Männer – in der Regel junge Erwachsene, die allein reisen – Gefühle der Angst und des Widerstands auslösen und damit eine restriktive Migrationspolitik legitimieren, ist die Passivität, die traditionell mit Frauen und Minderjährigen assoziiert wird, geeignet, die Politik zu mehr Schutzmaßnahmen zu drängen. Die derzeitige Mediatisierung der Geschichten ukrainischer weiblicher und kindlicher Opfer trägt dazu bei, die tief verwurzelte Vorstellung von Flüchtlingen und Migranten als potenzielle Bedrohung für die Aufnahmegemeinschaften in Frage zu stellen.
Geografische Nähe ist ein weiterer Faktor, der eine positive Einstellung gegenüber Migranten und Flüchtlingen fördert. Die räumliche Nähe hat viel weniger mit der physischen Entfernung zu tun, sondern wird eher durch Gefühle kultureller, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit interpretiert. In Anbetracht der langjährigen Präsenz der ukrainischen Diaspora kommt die Aufnahme vertriebener Mitbürger einem Wiedersehen in einer Gemeinschaft gleich, in der sie bekannte Nachbarn und Familienmitglieder sind.
Was jedoch die ukrainische Vertreibung besonders deutlich macht, sind die allgemeinen Umstände, die die Situation umgeben. Der anhaltende dramatische Konflikt erinnert an eine Zeit, die eng mit der Herausbildung der europäischen Identität verbunden ist: die massive Vertreibung infolge des Zweiten Weltkriegs, die zur Definition des Begriffs “Flüchtling” in der Genfer Konvention von 1951 geführt hat. Dieses kollektive Gedächtnis trennt eindeutig die “guten” und die “bösen” Charaktere in der Schilderung dieser Ereignisse und setzt einen starken Prozess der Selbstidentifikation in Gang, der beim Publikum auf große Resonanz stößt und wenig Raum für alternative Interpretationen oder Analysen lässt.
Das Projekt E-MINDFUL: Schaffung eines Raums, in dem sich jeder “nah genug” fühlt
Die vorläufigen Ergebnisse des E-MINDFUL-Projekts bestätigen, dass für eine dauerhafte Solidarität eine solide Erzählung und ein kohärentes Storytelling notwendig, aber nicht ausreichend sind. Die Forschung hat gezeigt, dass öffentliche Diskurse und Einstellungen gegenüber Migranten und Flüchtlingen unbeständig sind und sich schnell ändern können, wenn sie nicht angemessen gepflegt werden, wie der Bericht über die Bestandsaufnahme des Projekts nahelegt, dessen Ergebnisse Ende Juli 2022 vorgestellt werden. Solidarität und Empathiemüdigkeit könnten schon bald auftreten und den Raum für gegenseitige Toleranz in den Aufnahmegemeinschaften schrumpfen lassen, wodurch das Stachelschwein-Dilemma wieder ins Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger gerückt wird.
Auch wenn Krisenereignisse – wie der aktuelle Konflikt in der Ukraine – eine positive Einstellung gegenüber Vertriebenen, insbesondere den am meisten gefährdeten Menschen, hervorrufen, ist Migration ein Phänomen, das eine aufmerksame und sorgfältig geplante Kommunikationsstrategie erfordert. Das Projekt E-MINDFUL bietet Instrumente, Methoden und Ansätze zur Förderung geeigneter Erzählungen, die über stereotype Botschaften hinausgehen. In einer zunehmend vernetzten Welt, in der immer mehr Menschen im Ausland leben, studieren und arbeiten – sowohl als Ergebnis freiwilliger als auch erzwungener Mobilität – ist dieses Engagement unerlässlich, um die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen, in dem sich jeder “nah genug” fühlen kann, um sinnvolle und dauerhafte Beziehungen aufzubauen.